Tübingen, Evangelisches Stift, Bibliothek (D-Tes)
Im RISM sind für die Bibliothek des Evangelischen Stifts derzeit 849 Titel nachgewiesen. Die Handschriften und Drucke wurden in den Jahren 2020 und 2021 von der Münchner Arbeitsstelle katalogisiert, zunächst durch Besuche in der Bibliothek in Tübingen. Nach Ausbruch der Corona-Pandemie konnten die Musikalien durch einen Kooperationsvertrag des RISM mit dem Evangelischen Stift zur weiteren Bearbeitung nach München ausgeliehen werden.
Dass alle Musikalien, auch die Handschriften, zuvor schon im lokalen Bibliothekskatalog elektronisch verzeichnet waren, ist im Vergleich mit anderen Institutionen alles andere als selbstverständlich. Diese in Eigenleistung der Bibliothek des Stifts erstellten Katalogisate bildeten eine wichtige Grundlage für die Tiefenerschließung durch das RISM.
Aus musikgeschichtlicher Perspektive ist die Sammlung durch einige sehr seltene Drucke von Bedeutung. An erster Stelle ist dabei die geheimnisumwitterte „Sinfonia a Grande Orchestre“ mit der Komponistenangabe „I.A.H.“ eines bis dato nicht identifizierten Mozart-Zeitgenossen zu nennen. Von dieser Symphonie, die im Jahr 1795 im Verlag von Heinrich Philipp Bossler in Darmstadt erschienen war, sind nach derzeitigem Kenntnisstand weltweit nur zwei Exemplare überliefert, die sich beide im Besitz der Bibliothek des Evangelischen Stifts befinden!
Darüber hinaus ist die Sammlung eine wahre Fundgrube für das Schaffen und Wirken des Universitäts-Musikdirektors und Musiklehrers am Evangelischen Stift Philipp Friedrich Silcher (1789-1860). Neben den insgesamt 36 im Stift autograph überlieferten Werken Silchers gibt es eine ganze Reihe von Abschriften von Werken anderer Komponisten, meist Einzelstimmen, manchmal auch vollständiges Aufführungsmaterial von seiner Hand, das Zeugnis darüber ablegt, welche Werke Silcher in seinen Tübinger Jahren (1817-1860) aufgeführt und zum Teil auch selbst bearbeitet hat. Durch Provenienzvermerke auf den Quellen kommt dabei zum Ausdruck, dass Silcher offenbar für besondere Anlässe seine unterschiedlichen Tübinger Wirkungsbereiche für Musikaufführungen bündelte: Die akademische Liedertafel als Männerchor, den Oratorienverein als gemischten Chor und eben die musikalischen Kräfte im Evangelischen Stift. Für die Erstellung des Aufführungsmaterials standen ihm dabei offenbar immer wieder musikalisch begabte „Stiftler“ zur Seite. So ließ sich z.B. durch die Erschließungsarbeiten des RISM für die Jahre 1824 bis ca. 1829 mehrfach der Freund Mörikes und spätere Heidelberger Universitätsmusikdirektor und Mannheimer Hofmusikdirektor Louis Hetsch (1806-1872) als Schreiber identifizieren.
In der Musiksammlung der Bibliothek des Evangelischen Stifts ist damit in einzigartiger Weise das Musikleben im Stift, das akademische Musizieren an der Universität und darüber hinaus ein wichtiger Anteil des Musikgeschehens in der ganzen Universitätsstadt Tübingen dokumentiert.
Der Bestand wurde in den Jahren 2020 und 2021 von der Münchner RISM-Arbeitsstelle katalogisiert. Bei Fragen zur Erschließung dieses Bestandes durch RISM wenden Sie sich bitte an Dr. Helmut Lauterwasser, RISM-Arbeitsstelle München (e-mail: Helmut.Lauterwasser(at)bsb-muenchen.de; Telefon: 089/28638-2884
Bei allen anderen Fragen wenden Sie sich bitte direkt an die Bibliothek des Evangelischen Stifts in Tübingen.
Helmut Lauterwasser, Juli 2021